Eine Brachfläche seit dem Krieg
Im Laufe der 1980er Jahre sollten mehr Wohnungen in den Innenstädten der DDR gebaut werden – dafür wurde eine modifizierte Version der Plattenbauserie WBS 70 eingesetzt, die sich bautechnisch und stadtgestalterisch besser in die altstädtische Umgebung einpassen ließ. Erste Erfahrungen dazu wurden zum Beispiel in Greifswald gesammelt.
Die neue Wohnbaureihe (WBR 83) kam auch in anderen Städten des DDR-Bezirks Rostock zur Anwendung, so auch in der Stralsunder Altstadt. Ein markantes Beispiel ist der Bereich zwischen Baden- und Semlower Straße, im Ostteil der Altstadt zwischen Altem Markt und Hafenareal.
Das Gebiet lag seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nach Bombenschäden und Enttrümmerung brach. Zwar wurde 1953 die Wiederbebauung entlang der historischen Baufluchten geplant [1], was allerdings nie geschah. Noch der Generalbebauungsplan von 1978 sah eine langfristige Parkplatz-Nutzung für das Quartier vor. Die Modernisierung der Altstadt sollte an anderen Stellen erfolgen. [2]
Städtebau der kleinen Schritte
Im Jahr 1981 empfahl eine Arbeitsgruppe des Bund Deutscher Architekten der DDR (BdA) in einer Art Planungs-Workshop gemeinsam mit lokalen Verantwortlichen den Übergang zu einer »Planung der kleinen Schritte«. Damit ging eine Abkehr von den langfristigen Entwicklungszielen an den Stadträndern und einen Fokus auf kleinere Projekte in der Innenstadt einher. [3] Dieser Wandel der Planungsmethoden gleicht einem internationalen Trend in der Stadtplanung der 1980er Jahre.
Ideale Bedingungen für ein solches Projekt und dem innerstädtischen Bauen mit der Platte versprach der Standort zwischen der Baden- und der Semlower Straße. Hier konnte unkompliziert und ohne kostspielige Entmietungs-, Enteignungs- und Abrissmaßnahmen ein vergleichsweise großflächiger Standort bebaut werden.
Dabei stand den Verantwortlichen allerdings eine erst kürzlich entwickelte Idee im Weg. Anfang der 1980er Jahre wurde wegen der Verkehrsprobleme in der Altstadt eine neue Straße geplant: vom Frankenwall beginnend in Nord-Süd Richtung, wäre ein Durchbruch in vier Altstadtquartieren notwendig gewesen, bis zur Einmündung an der Kreuzung der Mauerstraße und der Semlower Straße, wie ein Strukturentwicklungsplan vom Dezember 1986 aus dem Büro des Stadtarchitekten Mattke erkennen lässt. [4]
»Substanzgesichert und abgeschlossen«
1987 fiel dann im Büro des Stadtarchitekten die Entscheidung zugunsten der Bebauung des Standorts mit der angepassten Plattenbaureihe – und damit gegen die neue Straße. Die entsprechenden Pläne wurden ausgearbeitet, letzte Beschlüsse noch im Laufe des Sommers 1988 gefasst. Im Oktober begannen die Tiefbauarbeiten, im Frühjahr 1989 ist der Hochbau schon in vollem Gange wie auf dem Bild des Fotografen Harry Hardenberg zu erkennen ist. Zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 sollte die erste Wohnung übergeben werden, wie das Bauschild verlauten lässt.
Heute präsentiert sich das Quartier mit seiner vergleichsweise kleinteiligen Dachlandschaft und der Anmutung von giebelständigen Häusern als Projekt, das die etwas über 100 Wohnungen in die historische Altstadt von Stralsund einzupassen. Der Verweis auf den historischen Stadtgrundriss und die Anmutung der vormodernen Stadt ist eindeutig und die Details der Fassade lassen deutliche Reminiszenzen an norddeutsche Backsteinarchitekturen erkennen. Kurz vor dem Wendeherbst 1989 wird das Projekt mit dem Titel »Baugebiet 1« abgeschlossen und galt dann als »erster städtebaulicher Raum [in der Altstadt] als substanzgesichert und umgestaltet.« [5] Das sogenannte Baugebiet 2 in der Nähe der Kirche St. Jacobi wurde nie verwirklicht – wenngleich dazu 1986 ein großer Wettbewerb durchgeführt wurde. Dieses Gelände liegt teilweise heute noch brach.
Autor: Jannik Noeske