Die Thesen sollen als eine mögliche Anregung für eine übergreifende Orientierung zur Forschung zum „Stadtwende-Thema“ dienen. Sie beziehen sich zuerst auf die Arbeitspakete Modellorte und Kulturinstitutionen, können aber auch als Anregung für das Forschungsvorhaben insgesamt wirken und regen zur Diskussion an. Zugleich fungieren sie für eine interne Vergleichbarkeit der methodischen Zugänge und Forschungsansätze, des Forschungsverständnisses zur DDR generell, sowie für die Kommunikation der Resultate. Sie sind als Orientierung gedacht, können Widerspruch auslösen und werden im Laufe der Forschung weiter bearbeitet. Sie wären aus der Sicht der jeweiligen Arbeitspakete und Forschungszugänge der Vebundteilnehmer*innen zu ergänzen und weiterzuentwickeln. Die Thesen basieren auf den ersten Erkundungen zum Thema und bisherigen Veröffentlichungen des Autors zur DDR-Städtebau-Geschichte.
- Die Stadtwende-Forschung will nicht ein weiteres Stück Geschichtsdarstellung zum „besterforschten Land“ liefern, sondern einen Ansatz verfolgen, der von der bisher etablierten Forschung zur DDR abweicht.
- Dabei wird die Geschichte der Stadtwende – Innenstadtverfall und Rolle von Bürgerinitiativen (BI) – nicht vom Ende der DDR her gedacht, sondern verfolgt den Weg zu ihrem Ende – letztlich seit der Nachkriegszeit.
- Im Zentrum stehen die Stadtverfallsprozesse in den 1980er Jahren. Dennoch werden diese auch als ein Resultat von Prozessen der Jahrzehnte davor zu sehen sein. Dabei spielen „Pfadabhängigkeiten“ und grundlegende wirtschaftsstrukturelle Entscheidungen sowie die Konsequenzen aus der Teilung Deutschlands eine zwar schon hinreichend erforschte, aber im Kontext des Stadtverfalls nur bedingt untersuchte Basisrolle.
- In der geschichtlichen Bewertung von Entwicklungen zum Innenstadtverfall und der Rolle von BI wird die Dichotomie von „Gut-Böse“ zugunsten von differenzierten Betrachtungen zur Akteurslandschaft und erzielten Resultaten im Kontext der o. g. Prozesse verlassen.
- Um den verbreiteten Verfall der Innenstädte in der DDR (insbes. der historischen Zentren) erklären zu können, genügt es nicht, subjektive Fehlentscheidungen, verkrustete Machtstrukturen oder regimekritische Gruppen in den Mittelpunkt der Untersuchungen zu stellen. Zugleich sind die strukturellen Defizite, Verwerfungen und Begrenztheiten in der DDR generell sowie im Bauwesen im Besonderen in die Forschungen zu integrieren, ohne dabei stehen zu bleiben.
- Um zu weitergehenden Erklärungen für den Stadtverfall und mögliche Rollen von bürgerschaftlichen Initiativen dabei vorzudringen, muss auch in Betracht gezogen werden, dass die DDR ab den 1960er Jahren ein „Musterland“ der städtebaulichen Moderne wurde, die das Erbe der Bauhaus-Moderne im Städtebau durchexerzierte, in sozialer, städtebaulicher und technologischer Hinsicht. Zugleich bildete sich in der Auseinandersetzung um das Bauhaus-Erbe in der DDR das gesamte Spektrum der Bauhaus-Rezeption – bewusst oder unbewusst – ab, das von Ablehnung über Affirmation und Hagiografie bis zur experimentellen Neuinterpretation reichte.
- Die städtebauliche „Wende“ in der DDR vollzog sich dann um 1981 – insbesondere beschleunigt durch die VGBWZ. Die Hinwendung zur Innenstadt und deren „Rekonstruktion“ war aber bereits Anfang der 1970er Jahre ansatzweise eingeleitet worden – dabei spielte das Modellprojekt Greifswald eine Schlüsselrolle. Es kann als Hybrid aus Vorfertigungsmodernismus und beginnendem urbanen Postmodernismus angesehen werden. Vorläufer (wie z. B. die „Traditionsinseln“)sind in dieser Hinsicht auch in den Blick zu nehmen.
- Die Auseinandersetzung mit der Innenstadt war zuerst ein Fachthema, das vor allem Stadtarchitekt*innen, Hochschullehrer*innen und Stadt-Forscher*innen vorantrieben. BI gab es zunächst so gut wie keine. Diese gruppierten sich um die Themen Frieden, Umwelt und Gerechtigkeit. Erst in den späten 1980er Jahren entstanden Initiativen zur Rettung der Innenstädte bzw. von Einzelobjekten, die jedoch nicht mit den „klassischen“ Bürgerinitiativen westlicher Prägung gleichgesetzt werden können. Es kann also von einem „neuen Typ“ an BI ausgegangen werden.
- Die Bilder von verfallenden Innenstädten, ramponierten Gründerzeitgebieten und maroden Infrastrukturen dominieren die Analyseansätze zur DDR und lieferten die visuellen „Blaupausen“ zur Bewertung der DDR insgesamt. Sie verstellten nicht selten den Blick auf die dahinter verborgenen Strukturen und lenkten die Aufmerksamkeit – im Verbund mit dem „Stasifokus“ der DDR-Geschichtsaufarbeitung – auf die Vordergründigkeiten des Wirkens von diktatorischen Verhältnissen. Der Zugang zu differenzierteren Erklärungsmustern wurde dadurch eher erschwert.
- Für die Auseinandersetzung um die Innenstädte, die Stadtgeschichte und den Denkmalschutz spielten verschiedenen Institutionen bzw. Netzwerke eine wichtige Rolle, die auch an der Basis mit oppositionellen Gruppen zusammenwirkten. Allen voran der Kulturbund, aber auch Künstlerverbände und Denkmalpfleger*innen. Eine besondere Rolle spielte die HAB Weimar, Sektion Städtebau und Gebietsplanung.
- Die Hinwendung zum Bestand und dessen Erneuerung erfolgte in der DDR auch im Kontext und etwa parallel zu internationalen Entwicklungen. Die Lücke zur praktischen Umsetzung dieser Hinwendung war vor allem der Pfadabhängigkeit der Bautechnologien und der Planungsstrukturen der Volkswirtschaft geschuldet.
- Die DDR war in hohem Maße abhängig von der UdSSR und besaß nur eingeschränkte Souveränität. Dies betraf auch die wirtschaftlichen Spielräume, die nicht nur durch Reparationen und die Energieabhängigkeit geprägt waren, sondern auch ein Verlustgeschäft für die DDR darstellten. Dies schränkte in erheblichen Dimensionen die verfügbaren Ressourcen u.a. für die umfassende Erneuerung von Infrastrukturen, Altstädten etc. ein.
- Die Bauwirtschaft der DDR ist ein Musterbeispiel für die fordistische Organisation, die verunmöglichte Anpassungsfähigkeit an grundlegend neue Entwicklungen, die geringe Flexibilität der Wirtschafts- und Steuerungsstrukturen – nicht nur des Bauwesens – und die Fragilität des Systems der DDR insgesamt.
- Das Jahr zwischen dem 4. November 1989 und dem 3. Oktober 1990 gehört zu den innovativsten Zeiten Deutschlands in der jüngeren Vergangenheit, nicht nur in Bezug auf bürgerschaftliches Engagement in der DDR; es manifestierte sich eine enorme Menge an gesellschaftlichen Innovationen, angefangen von der „Friedlichen Revolution“ selbst über den Entwurf einer neuen Verfassung für die neue BRD, über die Volksbaukonferenz bis hin zu strategischen Transformationsprojekten (siehe z. B. Bauhaus Dessau). Dieses heute meist vergessene Kulturgut der Wendezeit gilt es zugleich zu würdigen wie zu heben.
- In dieser Hinsicht liefert das Beispiel ‚DDR und Innenstadtverfall‘ ein auch international interessantes Lehrbeispiel für „nicht-resiliente“ Entwicklungen. Inwieweit diese dann nach 1990 fortwirkten, verändert wurden oder sich neu formierten, könnte eine nächste Fragestellung sein.
Harald Kegler, 04.08.2019